Fachzeitschrift Soziale Arbeit 19/1995: 3-9

 

Suchtprävention - der lange Weg von der Symptom- zur Ursachenbekämpfung

 

Während bewusstseinsverändernde Substanzen in weiten Teilen der Welt eine jahrtausendealte Tradition haben, wird der Konsum dieser Stoffe in Europa seit dem 16. Jahrhundert und in den USA seit dem 19. Jahrhundert - unter wechselnden Vorzeichen - stets von neuem problematisiert. Untrennbar mit diesem Problembewusstsein verknüpft sind präventive Strategien zur Verminderung der negativen Auswirkungen dieser Substanzen. Diese Strategien werden erst seit rund 20 Jahren auf Grundsätzen entwickelt, die über den traditionellen Horizont von Abschreckung, Verbot und Aufklärung  hinaussehen, wobei auch heute die meisten präventiven Massnahmen nicht an den Wurzeln der Suchtentstehung anpacken und wenige strukturelle Veränderungen bewirken.

 

Martin Hafen

 

Wenn wir davon ausgehen, dass Suchtprävention versucht, der Sucht nach einer bestimmten Substanz zuvorzukommen und dabei vor allem bestrebt ist, die körperlichen und psychischen Schädigungen zu verhindern, die der Konsum dieser Substanz mit sich bringt, dann liegt der Schluss nahe, es handle sich dabei um eine rein gesundheitspolitische Massnahme. Dieser Schluss ist falsch, das lehrt die Geschichte. Suchtprävention war über Jahrhunderte hinweg - und ist teilweise heute noch - ein Werkzeug der Politik, das nach Bedarf eingesetzt oder weggelassen werden kann.

 

Suchtprävention = Suchtpolitik = Machtpolitik

 

Ersetzt man den Begriff Suchtprävention durch „Sucht-“, „Betäubungsmittel-“ oder „Drogenpolitik“ wird der Bezug zur herkömmlichen Politik deutlicher. Diese Begriffsverknüpfung ist durchaus legitim, da jede Suchtpolitik zumindest vordergründig nichts anderes ist als eine Ansammlung von Massnahmen, die zum Ziel haben, den Konsum bestimmter Suchtmittel zu reduzieren oder zumindest die negativen Auswirkungen dieser Stoffe zu lindern.

Da sich die Antwort auf die Frage „Wie wird Suchtprävention gemacht?“ bis in die späten 70er-Jahre dieses Jahrhunderts auf die Begriffe Verbot, Abschreckung und Aufklärung beschränkte, lohnt es sich, den Blick kurz vom „Wie“ abzuwenden und das „Warum“ zu betrachten.

Der Historiker Jakob Tanner zeigt an einigen Beispielen auf, wie äussere Umstände verschiedene Gesellschaften dazu bringen, völlig unterschiedliche Substanzen als gefährlich zu deklarieren und präventive Massnahmen gegen deren Gebrauch oder Missbrauch in die Wege zu leiten1. Im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts z.B. schien der demonstrative, ja gar konspirative Genuss von Kaffee, Tee, Tabak und andern Gütern, die im Rahmen der kolonialen Expansion auf den alten Kontinent gelangten, für die kulturelle und politische Elite eine solche Gefahr darzustellen, dass mit vielfältigen Verboten versucht wurde, diesem unbotsmässigen Tun Einhalt zu gebieten - natürlich immer mit dem Hinweis auf eine vermeintliche oder reelle Schädlichkeit der verbotenen Substanz.

 

Das „Drogenproblem“ als Definitionsfrage

 

Bevor Suchtmittelkonsum mit Präventivmassnahmen bekämpft werden kann, muss er als Problem definiert werden. Eine solche Problematisierung liegt aber nicht immer im Interesse der Machthabenden, denn der Konsum von Suchtmitteln muss die Macht nicht zwangsläufig gefährden wie im obigen Beispiel, er kann sie auch stabilisieren. Tanner (1993) zitiert eine Untersuchung des italienischen Kulturhistorikers Piero Camporesi mit dem Titel „Das Brot der Träume. Hunger und Halluzination im vorindustriellen Europa“, in welcher der Autor beschreibt, wie die Armen psychoaktive Substanzen wie Mohn, Hanf und Mutterkorn in ihre Alltagsernährung miteinbezogen, um einerseits ihre Hungergefühle zu lindern und andererseits aus ihrem Schicksal in „künstliche Paradiese“ entfliehen zu können.

Exakt die gleichen Gründe können für die rapide Ausbreitung des Branntweinkonsums in Europa im 18. Jahrhundert angeführt werden: Der Schnaps war billig, einfach zu erstehen und dazu erst noch kalorienreich; er half den Hunger zu stillen und die unmenschlichen Arbeitsbedingungen zur Zeit der industriellen Revolution zu ertragen, Funktionen, die im übrigen die Kokapflanze in südamerikanischen Ländern bis heute erfüllt.

Trotz der Folgen, die der grassierende Branntweinkonsum in Europa hatte, dauerte es bis ins anbrechende 19. Jahrhundert, bis die mahnenden Stimmen ein bedeutendes Gewicht erhielten. Zu wichtig war der Alkohol in der Anlaufphase der Industrialisierung: Er diente Arbeitgebern als Mittel, die arbeitenden Massen ruhig zu halten, wobei in England einzelne so weit gingen, dass sie ihren Arbeitern/-innen einen Anteil ihres Lohnes mit Gin auszahlten.

Als sich die Industrialisierung etabliert hatte und die Gewinne auch mit weniger ausbeuterischen Methoden realisiert werden konnten, mehrten sich die Stimmen, die den Alkoholkonsum vom willkommenen - wenn auch nicht offen als solches bezeichneten - Massenberuhigungsmittel zum „Problem“, zur „Pest“ und zur „Seuche“ umdefinierten. Tanner (1993, S. 5) zeigt an diesem Beispiel auf, wie manipulativ mit dem Begriff „Drogenproblem“ umgegangen wird:

„Für viele bürgerliche Sozialreformer und Philanthropen war die „soziale Frage“ (die durch die Industrialisierung verursachte Entwurzelung und Verarmung vieler Menschen) im Kern eine „Alkoholfrage“.

Der - unangemessene - Lösungsversuch eines Problems wurde also kurzerhand zum Problem umdefiniert - eine Taktik, die in der Suchtmitteldiskussion bis in die Gegenwart regelmässig Verwendung findet.

 

Das „Problem“ wird zum Werkzeug

 

In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich das Thema Alkoholmissbrauch im öffentlichen Bewusstsein vieler Länder zu einem Hauptproblem, und ein ganzes Arsenal von präventiven Massnahmen zur „Lösung“ dieses Problems verfügt. In der Schweiz z.B. wurde 1884/5 ein Alkoholartikel in der Verfassung verankert und ein Gesetz in Kraft gesetzt, welches wohl den Kartoffelschnaps der Armen, nicht aber den teureren Obstschnaps einer bedeutenden Steuer unterstellte. In den USA gipfelten die Lösungsversuche des Alkohlproblems in der Alkoholprohibition Ende der 20er-Jahre.

Zweifellos war der Alkoholmissbrauch zu dieser Zeit - und nicht nur dann - ein sozialmedizinisches Problem ersten Ranges. Es fällt aber auf, dass den Ursachen für den übermässigen Konsum von Alkohol - dem eigentlichen Problem also - kaum Gedanken gewidmet und zu deren Behebung schon gar keine Lösungen angeboten wurden. Wirklich umfassende Prävention im Sinne von Ursachenbekämpfung wurde nicht betrieben, vielmehr wurde „die „Alkoholfrage“ während Jahrzehnten von gesellschaftlichen Autoritäten instrumentalisiert und auch missbraucht [...] für soziale Disziplinierung, für die Stigmatisierung von Minderheiten, für die Durchsetzung eines Normalitätsideals im Dienste von nationalistischen und volkswirtschaftlichen Zielsetzungen.“ (Tanner 1993, S. 5)

Es gibt Beispiele zuhauf, um Tanners Thesen zu unterlegen: In Österreich sorgte sich - wie in andern Staaten Europas - die Arbeiterbewegung um das Wohl der Alkoholkonsumierenden - nicht in erster Linie wegen deren Gesundheit, sondern weil eine „Verspiesserung des Proletariats“ durch den Alkoholkonsum befürchtet wurde2. In Deutschland befand sich die Abstinenzbewegung im Argumentationsnotstand, da die praktizierte Trennung in Bier (nicht schädlich) und andere alkoholische Getränke fachlich nicht zu vertreten war. In einer ähnlichen Lage sahen sich die Kirche - wie konnte das Blut Jesu Gift sein?! - und die nationalsozialistischen Führer, die ihrerseits den Widerspruch zwischen ihrer persönlichen Vorliebe für Alkohol und der Erkenntnis, dass dieser für die Entwicklung des Vaterlandes schädlich war, auf bewährte Art lösten, indem sie alkoholkranke Menschen als genetisch minderwertig bezeichneten und per Gesetz deren Sterilisierung verfügten, was gleichzeitig ein Freipass war, diese „Asozialen“ später in Konzentrationslagern verschwinden zu lassen.3

 

Drogen als machtpolitischer Faktor

 

Der Ruf des Alkohols hingegen wurde im Laufe dieses Jahrhunderts wieder besser: Aus dem Sucht- wurde ein Genussmittel, welches heute nicht nur in den allermeisten Ländern konsumiert, sondern auch mit Werbung gefördert werden darf.

Bei dem, was heute gemeinhin als „illegale Drogen“ bezeichet wird, lief die Entwicklung anders: Während der Alkohol im 19. Jahrhundert mit härtesten Worten und Taten bekämpft wurde, konsumierten zur gleichen Zeit breite Bevölkerungsschichten Laudanum, ein Opiat-Alkohol-Elixier, welches nahezu überall zu kaufen war, ohne dass dies grosse Besorgnis erregt hätte. Erst als die USA das Opium als Mittel zur Diskreditierung ihrer asiatischen EinwandererInnen und zur Durchsetzung ihrer imperialistischen Interessen (durch Anklage der im Opiumhandel tätigen Konkurrenz aus England) entdeckten, verlor die Substanz ihre vorherige „Unschuld“ und wurde - zusammen mit allen ihren Folgeprodukten und bis zum heutigen Tag - einem weltweiten Verbot unterstellt.

Dabei fällt auf, dass die USA die Opiate in diesem Jahrhundert vordergründig zunehmend verteufelten - unter anderem wurde auch die medizinische Nutzung untersagt -, hintergründig jedoch liessen sie kaum eine Gelegenheit aus, das durch die Verbotspolitik entstandene wirtschaftliche Potential der Substanz für ihre aussenpolitischen Interessen einzusetzen: Im 2. Weltkrieg, bei den kommunistischen Aufständen in Marseille von 1947, im Vorfeld des Vietnamkrieges und nach der russischen Invasion in Afghanistan nutzte der US-amerikanische Geheimdienst CIA die Ware Heroin als Mittel in Verhandlungen mit der Unterwelt oder mit kommunistenfeindlichen politischen Gruppierungen. Entweder wurde der Anbau von Opium, die Produktion von Heroin und der Handel mit beidem toleriert oder gar gefördert (wie in Vietnam), oder das Opium wurde als Zahlungsmittel für Waffen entgegengenommen (wie in Afghanistan)4.

In neuerer Zeit haben die USA in erster Linie das Kokain für ihre aussenpolitischen Interessen benutzt: Unter dem Vorwand des „war on drugs“ (Krieg den Drogen) wurden in Mittel- und Südamerika Waffen gegen Drogen getauscht (Nicaragua), massive Militäreinstätze durchgeführt (Bolivien), Präsidenten abgesetzt (Paraguay) oder gar Invasionen durchgeführt (Panama).5

 

1968: Geburtsjahr des heutigen „Drogenproblems“

 

Nach dem Scheitern der Alkoholprohibition und im Umfeld des 2. Weltkrieges verebbte die Diskussion um Suchtprobleme weitgehend. Währenddem nicht nur die Opiate, sondern auch Kokain, Hanf, Amphetamine und andere bewusstseinsverändernde Substanzen unter der Führung der USA einem weltweiten Verbot unterstellt wurden, hielt sich die öffentliche Diskussion um den Missbrauch von Suchtmitteln in Grenzen. Das ermöglichte z.B. Grossbritannien über Jahrzehnte hinweg, eine verhältnismässig liberale ärztliche Verschreibung aufrecht zu erhalten.6

Auf der Seite der legalen Drogen pendelte sich der Alkoholkonsum langsam ein, der Tabakmissbrauch jedoch nahm in den Industrienationen bis Ende 80er-Jahre massiv zu, eine Tendenz, die in den übrigen Ländern nach Hochrechnungen der World Health Organisation (WHO) bis in die weite Zukunft Gültigkeit haben wird.7

Einen neuen Höhepunkt der Problematisierung erlebte der Konsum von Suchtmitteln nach den gesellschaftlichen Unruhen, welche die westlichen Industrienationen 1968 und in den Jahren danach beschäftigten. Wie im 16. Jahrhundert der Kaffee wurden die illegalen Drogen Hanf, LSD und später Heroin in einem Kontext von gesellschaftlichem Protest konsumiert. Dieser Umstand rückte das „Drogenproblem“ schneller und nachhaltiger in den Mittelpunkt der öffentlichen Besorgnis als es Hunderttausende von Tabaktoten pro Jahr (1995: hochgerechnet weltweit 3 Millionen8) je schaffen werden.

Um ein Ausbreiten der „Epidemie“ zu verhindern, waren präventive Massnahmen gefragt - Massnahmen, deren Wirkung in Frage gestellt sein musste, wenn man die Begriffsverwirrung betrachtet, die andauernde Missbrauch der Substanzen für politische Zwecke angerichtet hatte.

 

Die Entwicklung der Suchtprävention in den 70ern...

 

In der Schweiz wurde zuerst wie in andern Ländern versucht, der Verbreitung dieser Drogen mit Durchsetzung der Verbote9 und mit Aufklärung10 entgegenzutreten. Der Grund für den zunehmenden Suchtmittelkonsum wird einerseits bei den Konsumierenden, d.h. mit den Worten eines Autors ausgedrückt: bei der „Verweichlichung ... willensschwacher Individuen“ in der „weitgehend automatisierten und motorisierten Industriegesellschaft“11 gesucht; andererseits in der - zumindest in schweizerischer - Suchtliteratur dieser Zeit, wiederholt auf die Rolle der Gesellschaft bei der Zunahme des Drogenkonsums hingewiesen. Dass diese Erkenntnis in der Präventionsarbeit keinerlei Auswirkungen zeitigte, überrascht nicht, denn die Autoren/innen handeln das Thema ‘Einflussnahme auf die gesellschaftlichen Strukturen’ wie z.B. Waser (1969), der die „Verhinderung sozialer Missstände ... als wichtigste (präventive) Massnahme gegen Drogenkonsum“ erkennt, in der Regel in einem Satz ab, während der Aufklärung und der Abschreckung ausführlich Platz gewidmet wird. 

Auffallend ist, dass wohl eine sehr breite Front mit Abschreckungsargumenten gegen jeglichen Konsum von illegalen Drogen auftritt, andererseits sich aber viele Wissenschaftler in der Diskussion für einen liberalen Umgang mit Drogen wie Marihuana und LSD einsetzen12. Dieser liberale Ansatz wurde im Laufe der 70er-Jahre und mit der zunehmenden Repression immer weniger geäussert und erlebte erst Ende der 80er-Jahre einen Aufschwung, als die Prohibitionspolitik bei immer weiteren Kreisen als gescheitert betrachtet wurde.

 

... und in den 80ern

 

Obwohl aufgrund von Erfahrungen aus statistischen Erhebungen im Bereich der legalen Drogen schon länger klar war, dass Warnung vor und Aufklärung über Suchtmittel zumindest bei Jugendlichen auch eine konsumfördernde Wirkung haben können13, dauert es bis in die frühen 80er-Jahre, bis sich die Stimmen mehren, die ein Überdenken der alten Maximen fordern. Die Unesco z.B. stellt fest, dass „Aufklärung ... alleine nicht genügt“ oder „Aufklärung aus lauter Freude an der Aufklärung ... mehr schadet als nützt“14, und verschiedene Autoren/-innen fordern wie Biener15 die Entkriminalisierung der Drogenkonsumierenden und vor allem der NeueinsteigerInnen.

Anhand der Suchtmittelliteratur der 80er-Jahre ist deutlich erkennbar, dass die Erfahrungen des vorangegangen Jahrzehnts halfen, die Möglichkeiten in der Suchtprävention zu differenzieren. Der Missbrauch von legalen und illegalen Suchtmitteln wird - zumindest von den Fachleuten - immer weniger getrennt, und die Unterscheidung zwischen ursachen- und symptomorientierter Prävention (oder Prophylaxe) setzt sich deutlicher durch als in den 70ern16. Gleichzeitig wird erkannt, dass eine Bekämpfung der Ursachen von Suchtmittelmissbrauch so aufwendig ist, dass die Gefahr von Hilflosigkeit und Resignation besteht - ein Zeichen dafür, dass eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Notwendigkeit von Veränderungen in unserer Sucht- und Konsumgesellschaft stattfindet und die Notwendigkeit für solche Veränderungen nicht nur pro forma erwähnt wird.

Die ständig steigende Zahl an Organisationen und Interessengruppierungen, die sich mit dem Drogenproblem auseinandersetzten, erschwerte vor allem Nichtfachleuten, sich im „Präventionsdschungel“ zurechtzufinden. Diese Unsicherheit wurde noch verstärkt durch die repressive Arbeit von Polizei und Justiz, welche erst mit der Ausbreitung der HIV-Infektionen ein akzeptierendes Element aufzunehmen begann.

 

Prävention ja! - aber welche?

 

Durch die offenen Drogenszenen in verschiedenen Schweizer Städten und die damit verbundene Medienpräsenz wurde das „Drogenproblem“ in den 90er-Jahren weiter in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Während die Diskussion um politische, strafrechtliche und ökonomische Ansätze zur Entschärfung des Problems zusehends polarisiert geführt wurde (was sich unter anderem in den beiden hängigen Initiativen niederschlug), bestand und besteht hinsichtlich der Notwendigkeit von Suchtprävention eine grosse Einigkeit - sowohl zwischen den Parteien von links bis rechtsaussen als auch zwischen den Sprachregionen.

Dieses positive Klima erlaubte zum einen die Entwicklung weiterer Präventionsansätze wie z.B. diejenigen der geschlechtsspezifischen Prävention17 oder der Suchtprävention als Gesundheitsförderung18; zum andern wurde und wird Präventionsprojekten auch in Zeiten finanzieller Misere in Gemeinden, Kantonen und beim Bund immer wieder Geld zugesprochen.

Da eine seriöse Evaluierung von Präventionsprojekten bis heute eher die Ausnahme als die Regel geblieben ist, wurde fleissig subventioniert, obwohl selbst bei Fachleuten lange umstritten war, welche Art von Suchtprävention wie wirkt. Während für die Schweiz eine umfassende Darstellung der Wirksamkeit von Suchtprävention fehlt, legten Künzel-Böhmer et al. 1993 ihre „Expertise zur Primärprävention des Substanzenmissbrauchs“ vor, die sie im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung verfasst hatten.19 Dabei kommen die Autoren/-innen neben andern zu folgenden Schlüssen:

  • Das Konzept der protektiven Faktoren (welche Faktoren schützen vor Suchtmittelmissbrauch) ist demjenigen der Risikofaktoren (welche Faktoren prädestinieren zum Missbrauch) vorzuziehen.

  • Kurzfristige Massnahmen sind nicht effektiv.

  • Informationsvermittlung ist kritisch zu beurteilen.

  • Die Förderung der Lebenskompetenz ist eine wirksame Präventionsmassnahme.

  • Als Ergänzung zum Lebenskompetenzkonzept ist die Schaffung von Alternativen zum Drogenkonsum positiv zu beurteilen, wobei diese Programme in der Regel keine Auswirkung auf den Suchtmittelmissbrauch haben, wenn sie alleine zur Anwendung kommen.

  • Das Konzept der affektiven Erziehung, welches davon ausgeht, dass Suchtmittelmissbrauch in erster Linie durch zwischenmenschliche Defizite verursacht wird, hat ohne konkrete Verhaltensübungen keine (in einigen Studien negative) Auswirkungen auf den Suchtmittelmissbrauch.

  • Präventive Massnahmen sollten bereits im Kindesalter beginnen.

  • Präventive Massnahmen sind für Nichtkonsumierende wirksamer als für Probierer und Konsumierende.

  • Der Einfluss der Familie auf den späteren Umgang mit Suchtmitteln wird in der Prävention zu wenig beachtet.

  • Neben der Familie soll auch die Schule vermehrt als Ort präventiver Massnahmen genutzt werden.

  • Die Gestaltung des Peer-Gruppen-Einflusses hat eine hohe Bedeutung für präventive Massnahmen.

  • Präventive Massnahmen über Massenmedien bedingen sorgfältige Planung, Durchführung und Auswertung.

  • Der Forschungsstand ist unzureichend.

 

Grundsätzliche Überlegungen

 

Wenn die Zahl der Drogenkonsumierenden in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen ist, kann dies nicht oder zumindest nicht nur dem Versagen der Suchtprävention zugeschrieben werden. Es ist zweifellos ein schwieriges Unterfangen, wirkungsvolle Suchtprävention zu machen in einer Gesellschaft, in welcher

  • die psychische und physische Schädlichkeit der einzelnen Suchtmittel in keinem logischen Zusammenhang zu den per Gesetz verfügten Massnahmen steht, welche die Regulierung dieser Substanzen bezwecken.

  • verschiedene dieser Regulationsmassnahmen sogar bei einer Substanz in krassem Widerspruch zueinander stehen. (Die EG subventionierte 1994 z.B. die Prävention gegen den Tabakmissbrauch mit 20 Mio DM, während sie im gleichen Jahr die Tabakproduzenten/-innen mit 2 Milliarden DM unterstützte, mit dem Ziel „...die Erhältlichkeit hochwertiger Tabakprodukte jederzeit zu gewährleisten“20).

  • der Bewegungsspielraum der Kinder und Jugendlichen seit Jahrzehnten zugunsten der Mobilität eingeschränkt wird.

  • das Angebot an isolationsfördernden Beschäftigungen wie TV und Computerspiele andauernd ausgebaut wird.

  • die Rollenbilder nur marginal verändert worden sind.

  • die Förderung und möglichst sofortige Befriedigung aller möglichen Bedürfnisse (z.B. durch die Werbung) zur Norm gemacht worden ist.

Es kann nicht bestritten werden, dass unsere Kinder und Jugendlichen in einer Gesellschaft aufwachsen, die selbst hochgradig suchtfördernd ist. Der grosse Teil der Gesellschaft nimmt diesen Umstand auch - wissentlich oder unwissentlich - billigend zur Kenntnis. Dies ist nicht nur bei der Sucht so, sondern auch in andern Bereichen wie z.B. der Gewalt: Gewalttätiges Verhalten wird nicht nur in den Medien verherrlicht, es wird auch in der Erziehung von Jungen (nicht aber bei Mädchen) durchaus geduldet, wenn nicht sogar gefördert. Die Gesellschaft reagiert erst, wenn das zuvor geförderte Verhalten Ausmasse annimmt, die als störend empfunden werden, so beim gewählten Beispiel, wenn sich die Gewalt in den Aktionen von Jugendbanden entlädt oder - um zur Sucht zurückzukehren - wenn die Junkies die Sicherheit oder das ästhetische Wohlbefinden der BürgerInnen gefährden. Dann lautet die Botschaft: sei nicht süchtig, sei nicht gewalttätig!

So ist denn das Haus Suchtprävention auf einem Fundament von Widersprüchlichkeiten gebaut, die nicht nur die Jugendlichen verunsichern.

 

Genügt die Primärprävention?

 

Gemäss einer Aufteilung, die sich in den 80er-Jahren zunehmend durchsetzte, wird die Suchtprävention in einen primären, einen sekundären und einen tertiären Bereich aufgeteilt. Ein wichtiger Aspekt der Primärprävention ist es, sich mit den obengenannten Widersprüchen auseinanderzusetzen und die Jugendlichen darin zu unterstützen, diese Widersprüche zu ertragen. Konflikt- und Genussfähigkeit sollen gefördert, negative Aggression und Sucht verhindert werden. Diese Bestrebungen sind ohne Zweifel wichtig und richtig. Angesichts der unablässigen Konfrontierung der Jugendlichen mit anders oder gar gegenteilig lautenden Botschaften (messages) durch Werbung, Medien, Verhalten der Erwachsenen usw. stellt sich aber die Frage, ob diese primärpräventiven Bemühungen ausreichen. Die gesamtgesellschaftliche Entwicklung und die Schwierigkeit, diese Entwicklung zu beeinflussen, (Ursachenbekämpfung) legitimieren diese Frage zusätzlich.

Wenn nun - und davon gehe ich aus - die Primärprävention nicht in der Lage ist, die (gesellschaftlichen) Ursachen der Suchtentstehung wirkungsvoll zu bekämpfen; wenn sie weiter mit ihren Aussagen und Aktionen bei den einzelnen Menschen wohl gewisse Verhaltensänderungen bewirken aber nur einen sehr beschränkten Einfluss auf deren ganzheitliche Entwicklung ausüben kann, stellt sich die Frage, ob die starke Gewichtung des primären Bereichs innerhalb der Suchtprävention gerechtfertigt ist. Verständlich ist sie, diese Gewichtung, auch oder gerade weil primärpräventive Projekte politisch verhältnismässig einfach zu vertreten sind. Primärprävention tut in der Regel niemandem weh, sie eckt nicht an. Kein Mensch kann etwas gegen einen Zirkusbesuch als Ausdruck der Lebensfreude haben; niemand wird sich daran stören, wenn jugendliche Rap-Stars ihre Alterskollegen/-innen auf die Gefahren des Drogenkonsums aufmerksam machen, und auch Plakate, die Drogen- mit Fernseh- oder Konsumsucht gleichsetzen, stellen zwar unsere gesellschaftlichen Werte in Frage, letztlich sind sie aber ohne Konsequenz, denn es mangelt ihnen an Verbindlichkeit. Vor diesem Hintergrund läuft die Primärprävention - auch die fachlich hochstehende - Gefahr, politisch missbraucht zu werden: Sie bewirkt selbst bei kritischen Inhalten keine nachhaltigen Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen (z.B. der Machtmechanismen), und gleichzeitig dient sie als Mittel zur Beruhigung des Gewissens, welches fordert, „dass gegen das Drogenproblem, das Gewaltproblem etwas gemacht wird“.

 

Verbindliche Veränderungen

 

Braucht es nicht zusätzlich eine andere Art von Prävention, eine, die den Umstand akzeptiert, dass es in einer Sucht- und Gewaltgesellschaft auch mit einem zehnfachen Aufwand an Primärprävention nicht möglich ist, Entwicklung zu süchtigem und gewalttätigem Verhalten zu verhindern? Braucht es nicht eine Prävention, die bereit ist - unbeeindruckt von der Masse von zu behebenden Missständen - im kleinen Bereich gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken, indem sie Strukturen verändert - nachhaltig und verbindlich? Sollte es zudem neben der Prävention, die sich an alle richtet, nicht vermehrt auch eine geben, die sich des einzelnen Menschen annimmt? Sicher, die sogenannte Tertiärprävention nimmt sich des einzelnen Menschen an; sie versucht unter anderem, die negativen Seiten der Sucht so weit wie möglich zu lindern, die Gesundheit zu fördern und bestenfalls die Grundlage für eine Neuorientierung zu schaffen. Die sekundäre Prävention jedoch, die sich definitionsgemäss an die Gefährdeten richtet und zudem das Potential für Verbindlichkeit hat, war bis vor kurzem der am schlechtesten ausgebaute Bereich der Suchtprävention.

Früherfassungsprojekte, wie z.B. das Luzerner Modell, das in diesem Heft von Ernesto dal Molin vorgestellt wird, sollen helfen, diese Lücke zu schliessen und eine Prävention zu realisieren, die sich dem einzelnen Menschen mehr annähert, als dies Primärprävention in der Regel tut. Vielleicht noch wichtiger ist aber, dass diese Projekte Strukturen, die suchtfördernd oder zumindest nicht suchthindernd sind, in Frage stellen und verändern. Im Luzerner Fall sind dies die Schulstrukturen: Die Zusammenarbeit der Lehrkräfte wird institutionalisiert, die Vernetzung mit Menschen und Institutionen im Umfeld der Schule gefördert und die interne Organisation des Schulhauses in Frage gestellt. Kurz: Das bislang so schwer fassbare, bisweilen widersprüchliche Instrument Suchtprävention betätigt sich unter dem Begriff Früherfassung zunehmend in einem Bereich, der sehr klar fassbar und definierbar ist: in der Organisationsentwicklung. Damit bewirkt die Suchtprävention - wenn auch in sehr beschränktem Rahmen - die Veränderung von gesellschaftlichen Mechanismen, die in den Präventionsschriften schon lange gefordert aber nie in konkret Angriff genommen worden ist. Freilich bleibt abzuwarten, wie weit solche Veränderungen gehen können, bis sie auf politischen Widerstand stossen.

Weiter könnte die Früherfassung im heutigen Sinn dazu beitragen, dass die herkömmliche und fachlich problematische Aufteilung der Suchtprävention in einen primären, einen sekundären und einen tertiären Bereich überflüssig wird. Früherfassung, wie sie in Luzern praktiziert wird, ist nämlich keinem der drei Bereiche zuzuordnen; sie vereint alle Aspekte der Präventionsarbeit in sich und verwischt so die Grenzen, die dafür verantwortlich sind, dass Präventionsfachleute in der Regel nur in einem Sektor wirken und die Arbeit in den andern Bereichen skeptisch begutachten.

Schlussendlich beschränkt Früherfassung ihren Blickwinkel nicht auf die Sucht, sondern berücksichtigt alle Arten von auffälligem Verhalten wie - um beim oben verwendeten Beispiel zu bleiben - Gewalttätigkeit, was insofern naheliegt, als die Wurzeln von süchtigem und gewalttätigem Verhalten im gleichen Grund wachsen.

 

Strukturelle Veränderungen nicht nur in der Schule

 

Dass die Früherfassung hauptsächlich in der Schule ansetzt, kann zwei Gründe haben: Einerseits legt die Pädagogik seit einigen Jahren selbst zunehmend Wert auf Verbindlichkeit, andererseits kann diese Verbindlichkeit von Massnahmen in der Schule besser gewährleistet werden als z.B. in der Familie oder in Vereinen, was nicht zuletzt den Erfassungsgrad der gefährdeten Kinder und Jugendlichen erhöht. Die zweite Ansicht vertritt auch Minder[xxi], der in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre „Früherfassung“ betrieb, wobei er in der Regel direkt mit den Schulklassen und den Eltern zusammenarbeitete und die Schulung der Lehrkräfte via Weiterbildung vorschlug. Es ist aber durchaus vorstellbar, dass das Früherfassungskonzept - so es sich bei den Schulen als erfolgreich erweist - auch in andern Bereichen (z.B. in Firmen und im Freizeitbereich) regelmässig zur Anwendung kommt.

Der Entscheid des Bundesamtes für Gesundheitswesen (BAG), Projekte der Früherfassung an Schulen in einem grösseren Rahmen zu fördern, zeigt, dass auch beim Bund die Erkenntnis gereift ist, dass die Zeit für eine Neuorientierung in der Suchtprävention gekommen ist. Es bleibt zu hoffen, dass allfällige Erfolge bei dieser Neuorientierung uns dazu motivieren, nicht nur partielle, sondern auch die grundlegenden Mechanismen unserer Gesellschaft immer aufs Neue zu hinterfragen. Denn nur so wird unseren Kindern schlussendlich eine Entwicklung möglich sein, die aus ihnen genussfähige statt süchtige und konfliktbereite statt gewalttätige Menschen macht.

 


[1] Tanner J. Von Genuss- und Heilmitteln zu „Rauschgiften“, Sozialarbeit Nr. 1/1993

[2] vgl. Bauer O. Festrede anlässlich des zwanzigjährigen Bestehens des österreichischen Arbeiter-Abstinenzenbundes vom 17.1.1926. Publiziert in: Idealismus und Nüchternheit, Wien 1926. Nachdruck in: Wiener Zeitschrift für Suchtforschung, 17.Jg., Nr. 3/4 /1994

[3] vgl. Dede K. Der halbherzige Feldzug gegen den Alkohol, Suchtreport Nr. 3/1995, BRD

[4] vgl. Behr H.G. Weltmacht Droge, Wien 1980

[5] vgl. Amendt G. Der Grosse Weisse Bluff, Hamburg 1987

[6] vgl. Trebach A.S. The Heroin Solution. New Haven und London 1982

[7] vgl. Hafen M. „Rauchen kann Ihre Gesundheit gefährden“. DrogenMagazin (Schweiz) Nr. 3/1995

[8] Barnum H. The economic burden of the global trade in tobacco. Tobacco control 1994

[9] vgl. z.B. Nepote J. Die Interpol im Kampf gegen den Rauschgifthandel, Unesco Kurier Nr. 5/1968

[10] vgl. z.B. Waser P. Suchtprobleme der Zukunft in Bschor F. et al. Rauschmittel und Süchtigkeit Band 3, Tagungsbericht der gleichnamigen Tagung des Gottlieb-Duttweiler-Instituts vom 15./16. Januar 1970, Verlag Herbert Lang & Cie AG, Bern und Frankfurt/M. 1971

[11] Schär M. Geleitwort zu Biener K. Genussmittel und Suchtgefahren im Jugendalter, Basel, Freiburg im Brsg., New York 1969

[12] vgl. diverse Artikel und Paneldiskussionen in Bschor F. et al. Rauschmittel und Süchtigkeit Band 3, Tagungsbericht der gleichnamigen Tagung des Gottlieb-Duttweiler-Instituts vom 15./16. Januar 1970, Verlag Herbert Lang & Cie AG, Bern und Frankfurt/M. 1971

[13] vgl. Biener K. Genussmittel und Suchtgefahren im Jugendalter, Basel, Freiburg im Brsg., New York 1969

[14] AutorIn unbenannt. Eine Untersuchung der Unesco. Unesco-Kurier „Drogen und Gesellschaft“. Nr. 1/1982

[15] Biener K. Verbreitung des Drogen- und Tablettenmissbrauchs, in Canziani W. (Hrsg:) Hilfe unser Kind nimmt Drogen, Pro Juventute, Zürich 1983

[16] vgl. z.B. Gassmann B. et al. Suchtprophylaxe in Theorie und Praxis, Lausanne 1985

[17] vgl. z.B. Frauenblicke auf die Sucht. Sozialarbeit Nr. 5/1992

[18] vgl. z.B. Waibel E.M. Der lange Weg der kleinen Schritte. Suchtreport (BRD) Nr. 2/1994

[19] vgl. Künzel-Böhme J. et al. Prävention ist wirksam, DrogenMagazin (Schweiz) Nr. 2 und 3/1994

[20] zitiert in Report. ARD Erstes deutsches Fernsehen. 28.8.1995

[21] Minder U. Bericht über Versuche prophylaktischer Arbeit zur Bekämpfung der Suchtgefahren, Bern 1978